Unterricht – abcEtüde 06*07*08*09**24 #1

„Was hat uns die Geschichte gelehrt?“ fragt der hakennasige Lehrer die Klasse und lässt seinen Blick über die Gesichter der Jugendlichen gleiten.
Einige schauen ihn aufmerksam an. Manche starren auf ihre zerkratzten Tischplatten. Marius schreibt irgendetwas in sein Heft, von dem sich Markus Thomaso – der Lehrer – fragt, was es wohl sein könnte.
Martina schaut verträumt aus dem Fenster. Hanna flicht ihren Zopf neu.
Zaghaft hebt sich eine Hand. Die rastazöpfige, stets etwas schmuddelige Caro möchte etwas sagen und Markus richtet sich auf, als wolle er sich wappnen für die Diskussion, die Caro gleich losbrechen würde. Er räuspert sich und sagt:
„Caroline, bitte!“
Einer der Jungs in der hinteren Reihe stöhnt gequält auf. Ein anderer zischt:
„Zecke!“
Caro tut so als hätte sie es nicht gehört. Markus sagt trotzdem:
„Elias, bitte!“ mit einem ärgerlichen Unterton.
Caro ist währenddessen aufgestanden. Das wäre nicht notwendig, aber vielleicht möchte auch sie etwas demonstrieren. Dann beginnt sie zu sprechen:
„Die Geschichte hat uns gelehrt, dass der Deutsche an sich von einer extremen Unterwürfigkeit geprägt und gezwungen ist. Diese scheint inbesondere der Dummheit, dem Hass und der Ausländerfeindlichkeit folgen zu wollen, denn damit kann man noch heute die grölende Masse aktivieren. Damals wie heute haben wir alle“ sie sieht trotzig in die Runde: „die Chance verjubelt, etwas Furchtbares zu verhindern und den größten Völkermord aller Zeiten verschuldet.“
Sie atmet schwer.
Fast alle Schüler schauen sie an. Ihre Stimme ist eindringlich, ihr Ton überzeugt. Selbst Hanna hat aufgehört zu flechten.
„Mir ist egal, ob ihr mich ‚Zecke‘ oder ‚Zicke‘ oder was auch immer nennt, weil ihr mich nicht versteht oder ich in euren Augen anders bin als ihr es sein wollt. Ich will nicht zu euch gehören, wenn ihr die seid, die mit der grölenden Masse laufen. Ich bin die, die dagegen ist, dass sich alles wiederholt!“

(300)

Eine Geschichte im Rahmen der Schreibeinladung von Christiane zu den abcEtüden.

Veröffentlicht von Kain Schreiber

Gedanken. Geschichten. Bilder.

13 Kommentare zu „Unterricht – abcEtüde 06*07*08*09**24 #1

  1. Eine mutige Außenseiterin. Ich mag ihre Aussage nicht inhaltlich diskutieren, aber ich hoffe, sie hat viele, die ihr den Rücken stärken. Zukunft geht nur mit allen, alles andere ist brandgefährlich, und auch da ist es meinem Gefühl nach schon ziemlich spät.
    Danke dir, Kain, deine Etüde macht mich sehr nachdenklich.
    Abendgrüße 🌧️🛋️🍷🍪👍

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  2. Ein sehr schöner, flüssiger Text, ganz ohne unnütze Schnörkel, finde ich. Danke, setzen 😉 …
    Ich bin gespannt, was heutige Kabarettisten zum Thema erfinden werden – denn daß die Radfahrer an allem Schuld haben, könnten sie nicht mehr anführen, auch wenn den Spruch Tucholsky nicht erfunden hätte. Denn die sind echt zur Landplage geworden.

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    1. Ich hatte tatsächlich einen meiner ehemaligen Lehrer vor Augen, der sehr dünn, unsicher, hakennasig und schlacksig war und immer ein bißchen so wirkte als hätte er Angst vor uns Schülern.
      Außerdem wollte ich ihm (mit den wenigen zur verfügung stehenden Worten) ein Gesicht geben.

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    1. Ich hatte tatsächlich einen meiner ehemaligen Lehrer vor Augen, der sehr dünn, unsicher, hakennasig und schlacksig war und immer ein bißchen so wirkte als hätte er Angst vor uns Schülern.
      Außerdem wollte ich ihm (mit den wenigen zur verfügung stehenden Worten) ein Gesicht geben.

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  3. Ich denke, wir sollten die Jugendlichen nicht unterschätzen. Ich bin zuerst selbst überrascht gewesen, als ich von unserem Nachbarsjungen (13 Jahre) vor ein paar Wochen gehört hatte, sie hätten in der Schule die Aufgabe bekommen, über den Krieg Hamas vs. Israel eine Analyse zu schreiben. Ich dachte zunächst: das kriegen die doch nie hin, denn wir Erwachsenen verstehen das ja nicht einmal!
    Umso überraschter war ich, als er mir seine Mutter dann berichtete, dass er sich da richtig hinein gekniet habe und nach ihrer Meinung eine recht fundierte Analyse auf die Beine gestellt hätte. Da hätte sie vor dem Knirps den Hut gezogen.

    Ich finde es a) toll, dass man sich in der Schule auch mit den aktuellen politischen Themen auseinandersetzt und b) dass die Jugend offensichtlich DOCH NICHT so uninteressiert an allem ist und sich auch bewusst und gezielt mit schwierigen Themen auseinander setzt.

    Lasst uns also hoffen, dass mehr CAROs aufstehen!

    Sehr guter Anstoss, für den ich danke sage.

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