Das letzte Hemd – abcEtüde 23.24.22 #1

Selbstgefällig schlenderte Wilhelm über den Bootssteg seines Yachtclubs. Sein Spiegelbild im stillem Wasser zeigte ihm, dass er mal wieder ein wenig abspecken sollte, aber dafür schmeckte es ihm einfach zu gut. Vor allem nach einem langen Tag auf dem Meer mit der frischen Salzluft in der Nase. Die Yacht gekauft zu haben, war das Beste, das er in den letzten dreißig Jahren entschieden hatte. Schließlich war er wer und in seinen Kreisen gehörte ein standesgemäßes Boot einfach dazu.
Ja, okay: die Yacht war nicht neu. So reich war er denn doch nicht, aber er hatte sie letztes Jahr besenrein übernommen, umgetauft, frisch lackiert und seitdem war sie ganz seins.
Das Holz des Steges knarrte unter seinem Gewicht.
Er schwankte ein wenig.
Er blieb stehen und sah zurück.
Die Riggs der Boote bildeten ein schier undurchdringliches Wirrwarr. Sie bewegten sich im Rhythmus des leichten Wellenganges, der jetzt einsetzte, gleichmäßig auf und ab.
Er liebte dieses Gefühl unendlicher Freiheit, das ihn durchströmte, wenn er hier stand.
Dann vergaß er sogar all die Kämpfe, die es gekostet hatte, bis hier hin zu kommen. Er hatte vieles zurücklassen müssen. Sogar seine Ehe hatte es ihn gekostet. Gefühlskalt und egomanisch hatte Gudrun ihn zuletzt genannt, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass sie keinen Cent von ihm sah.
Schließlich waren die Kinder groß und gingen ihren eigenen Weg. Dass sie nicht mehr mit ihm sprachen, seit sie ausgezogen waren, bedauerte er sehr – doch was sollte er tun? Man wurde schließlich nicht reich davon, dass man Rücksicht sah.
Plötzlich hörte er ein Pfeifen. Es hatte etwas bedrohliches. Sah sich um.
Tiefschwarze Wolken standen über ihm. Bevor er es begriff, erfasste ihn eine Bö, wirbelte ihn herum. Er versuchte sich festzuhalten. Fiel, schlug mit dem Kopf gegen etwas hartes und plumpste ins Wasser.

Niemand hörte es .

Eine Geschichte im Rahmen der Schreibeinladung von Christiane.

Veröffentlicht von Kain Schreiber

Gedanken. Geschichten. Bilder.

8 Kommentare zu „Das letzte Hemd – abcEtüde 23.24.22 #1

  1. Und wieder hat es einen erwischt 😉!
    Etwas unwahrscheinlich, dass er die schwarzen Wolken nicht vorher bemerkt hat und von einer Böe umgeworfen wurde, zumal er übergewichtig war. Ein Bootsbesitzer beobachtet ständig Wetter und Wolken.
    Ich hätte mir gern EINE positive Eigenschaft gewünscht, wenigstens etwas und hätte gern erfahren, was die Gründe waren, dass er alles zurückgelassen hat.
    Unabhängig davon liest es sich gut😊

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  2. Ich kann mir vorstellen, dass man im Hafen und ohne die Absicht rauszufahren nicht so wachsam ist und daher die Wolkenwand, die hinter einem aufkommt, erst spät bemerkt. ☁️🌧️🌪️🌫️ Trotzdem ist auch mir die „himmlische“ Gerechtigkeit ein bisschen zu sehr deus ex machina. Aber wie ich dich einschätze, geht es dir eher darum, dass er allein stirbt und kein Hahn nach ihm kräht, weil er alle weggebissen hat. Bin gespannt, ob du noch eine Erklärung nachschiebst. 🤔😎
    Übrigens: Es ist, glaube ich, noch nie passiert, aber du bist schon der Dritte, den ich erinnern muss, dass die Wortspende „Yachtclub“ heißt, nicht „Yachthafen“. Änder das doch bitte noch 😉
    Amüsierte Abendgrüße ☁️🌳🍷🍪🌼👍

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