Flammenmeer – abcEtüde 38.39.21 #2

Triggerwarung

[ACHTUNG: Triggerwarnung: Dieser Text enthält Szenen psychischer Gewalt (Stalking), die belastend sein können und/oder Flashbacks auslösen oder Erinnerungen freisetzen. Bitte lesen Sie diesen Text nicht, wenn Sie fürchten müssen, getriggert zu werden!.]

Flammenmeer

Die Asche ihrer Zigarette fällt auf den Teppich. Sie schaut hinunter. Sie schwitzt, das strähnige Haar klebt ihr an der Stirn. Das kleine Schwarzweißfoto, das aus dem Stapel Papiere gefallen ist, liegt unschuldig im Schmutz. Der wellig gezackte Rand katapultiert sie in ihre Vergangenheit, noch bevor sie erkennt, was auf dem Bild zu sehen ist:
Ein kleines Mädchen lächelt verschmitzt hinter einem Schäferhund hervor. Eine Zahnlücke lässt sie ein wenig frech erscheinen. Das weißes Hemd, das sie trägt, hängt ihr schief von der Schulter und man kann nicht recht erkennen, ob es nur die vergilbte Fotografie ist oder das Hemdchen schmutzig.
Judith blinzelt.
Sie lässt die restlichen Papiere fallen. Setz sich auf den speckigen Teppich. Nimmt das Foto in die Hand.
„Aus dir wird nie ein anständiges Mädchen!“
hört sie ihren Opa sagen, weiß aber nicht, ob es an diesem Tag war oder ob es schon davor angefangen hatte. Seine Prophezeiung klingt ihr in den Ohren wie ein böses Omen. Sie spürt wieder seinen Atem an ihrem Hals, sein Japsen und Stöhnen. Sie presst die Lider zusammen. Will die Bilder in ihrem Kopf verscheuchen. Ihre Hände tasten nach dem Glas auf der Flachstrecke der Schrankwand, die fast so alt ist wie das Foto. Sie wirft den Kopf zurück und trinkt gierig das Vergessen. Sie weiß nicht, ob es Tränen sind oder Schweiß, der über ihre Wangen kullert. Sie hört ihn sagen:
„Hau ab!“
mit rauher Stimme, wenn er mit ihr fertig war und sie ekelt sich als passierte es gerade wieder.
Mühsam wuchtet sie ihren Körper hoch.
Jetzt ist er tot. Hat sich verkrümelt und an ihr hängt die Last der Wohnungsauflösung.
Wut überrollt sie.
Langsam nimmt sie den Hochprozentigen vom Tisch und übergießt alles.
Das Klicken des Feuerzeugs gellt in ihren Ohren wie ein Schuss.

Eine Geschichte im Rahmen der Schreibeinladung von Christiane.

Veröffentlicht von Kain Schreiber

Gedanken. Geschichten. Bilder.

10 Kommentare zu „Flammenmeer – abcEtüde 38.39.21 #2

  1. Und meistens passiert es in der nächsten Familie.
    Man könnte vor Wut kotzen und auf seinen Grabstein einschlagen.

    So grob, aber mit so schönen Bildern erzählt: der Büttenrand der alten Bilder, sie trinkt das Vergessen und der Finale Schuss.
    Hohe Kunst!

    Gefällt 1 Person

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