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Zugfahrt #6

Sira spürte eine unendliche Erleichterung, nachdem sie diese ersten beiden Sätze geschrieben hatte. Es musste einfach raus. Sie fühlte es bis in den letzten Winkel ihrer Seele. Mit Feuereifer schrieb sie weiter:

   Alles begann vor langer Zeit. Ich habe die Zeichen übersehen, weil ich nicht wusste, was sie bedeuten. Es ist unmöglich, mit einem krankhaft narzisstischen Menschen zu leben. Ich habe es lange versucht. Zu lange. Als ich vor einigen Wochen meine Trennung vorzubereiten begann, nahmen die Ereignisse einen Lauf, den ich nicht zu kontrollieren imstande war, weil ich immer noch an einen Rest Vernunft in Martin glaubte. Glauben wollte.

Das war falsch! Heute weiß ich das.

Martin hatte längst aufgehört, vernünftig zu sein. Vielleicht war er es nie. Zumindest nicht, solange ich ihn kannte.

Doch der Reihe nach:

Es hatte mich viel Mühe gekostet, unbewachte Gelegenheiten zu nutzen, um mich heimlich nach einem Job umzusehen. Schließlich bin ich Berufsanfängerin. Mein Studium liegt Jahre zurück und ich habe nie in diesem Beruf gearbeitet. Alles gelernte längst überholt. Das Selbstbewusstsein angeknackst, vielleicht auch gar nicht vorhanden, da kaum Kontakt zu anderen – schon gar nicht fremden – Menschen bestand. Penibel hatte ich darauf geachtet, den Browserverlauf überall und jedes Mal zu löschen. Was aber auch bedeutete, immer wieder von vorn anzufangen, wenn es die Zeit zuließ.

Trotzdem hatte ich oft genug das Gefühl, Martin weiß etwas. Durchschaut meinen Plan.

Viel zu spät begriff ich, dass er alles mitlas, in dem er sich in meine PCs eingehakt hatte, die ich benutzte.

Den zuhause benutzten wir beide gemeinsam. Das war für ihn sicher eine Fingerübung gewesen, meine wenigen Aktivitäten nachzuvollziehen. Wie er es allerdings geschafft hatte, sich auch in den PC der Bibliothek des Ortes einzuhaken, um dort genau meine Aktionen zu finden und zu filtern, ist mir schleierhaft geblieben. Ein Smartphone besaß ich nicht. Nur so ein altes Handy mit dem man telefonieren konnte. Martin hatte mir erklärt, es würde völlig genügen, wenn er eines hätte, denn verreisen würden wir ja ohnehin nur zusammen. Ich bräuchte also all diesen modernen Schnickschnack nicht, könne wahrscheinlich sowieso nicht damit umgehen.

So hatte es Wochen gedauert, Kontakt zu einem potentiellen Arbeitgeber zu finden.

Noch schwieriger war es gewesen, eine gewisse Geldsumme für die erste Zeit beiseite zu schaffen, ohne dass es Martin auffiel.

Wir hatten nur ein gemeinsames Konto, über das Martin verfügte. Einkäufe erledigten wir am Wochenende zusammen und Martin zahlte mit Karte.

Heimlich hatte ich begonnen, Kleidung zu verkaufen und das Geld zur Seite gelegt, indem ich es im Bad zwischen meinen Tampons versteckte. Ich war mir sicher, dass er dort niemals hinschauen würde.

Schließlich war es mir gelungen, einige hundert Euro zusammen zu bekommen. Weit würde ich damit nicht kommen. Doch das war mir egal. Ich wollte nur überleben.

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Veröffentlicht von Kain Schreiber

Gedanken. Geschichten. Bilder.

4 Kommentare zu „Zugfahrt #6

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