Sira nahm ihre Tasche aus dem Gepäckfach, wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah den anderen Reisenden hinterher, die alle – offensichtlich froh, herauszukommen – in Richtung der Türen drängten. Bedächtig zog sie ihre Jacke an. Sie hatte so gar keine Lust auf ein Hotel. Wahrscheinlich irgendeine billige Absteige oder ein Ibis mit Gemeinschaftsbad. Leider hatte sie aber auch keine bessere Idee. Ihren Termin in Stralsund konnte sie aber nun morgen früh endgültig vergessen. Sie würde ihn verpassen. Anrufen! Dachte sie. Und gleich darauf: keine Lust…Außerdem war es jetzt ohnehin zu spät.
Langsam verließ sie das Abteil. Draußen waren tatsächlich zwei Busse angekommen. Auf einem Feldweg. Dichte Trauben von Menschen drängelten sich an den Türen. Die beiden Zugbegleiter hatten Mühe, das Einsteigen zu organisieren. Falls sie es überhaupt versuchten. Etwas abseits standen zwei Männer, die als Bahnmitarbeiter zu erkennen waren, auch wenn Sira nicht richtig sagen konnte, woran sie es erkannte. Vielleicht der Lokführer. Sie rauchten und betrachteten aus einiger Entfernung das Gewühl an den Bussen. Sira bezweifelte, dass all diese Menschen in die Busse passen würden. Trotzdem beeilte sie sich nicht. Es machte nun sowieso keinen Sinn mehr. Sollte doch das Schicksal entscheiden. Entweder passte sie hinein oder eben nicht… Jemand hinter ihr sagte plötzlich: „Keine Angst! Es kommt noch ein dritter Bus. Der wendet nur gerade etwas weiter hinten.“ Sira drehte sich halb herum. Ein dritter Zugbegleiter – zumindest sah er so aus, obwohl sie ihn zuvor noch nicht im Zug gesehen hatte. Er eilte an ihr vorbei und rief ihr im Laufen zu: „Entschuldigung! Ich wollte Sie nicht erschrecken!“ „Alles gut!“ rief Sira ihm hinterher und: „Danke!“
Eine viertel Stunde später saß sie im Bus. Ganz vorn hinter dem Fahrer und starrte in die Lichtkegel der Scheinwerfer in der Dunkelheit. Inzwischen hatte sie auf ihr Handy geschaut. Es war gerade erst kurz nach sechs und doch schon stockfinster. Sie waren tatsächlich in der Nähe von Köln. Das hatte sie inzwischen herausgefunden. Der Bus fuhr ruhig und gleichmäßig durch die Nacht. Der Fahrer war jung und hatte lange dunkelbraune, fast schwarze Haare zu einem Zopf gebunden, der bei jeder Bodendelle lustig hüpfte. Er sah konzentriert in die dunkle Straße und kaute dabei Kaugummi. Manchmal sah Sira im Spiegel eine Zahnlücke zwischen seinen Lippen aufblitzen, wenn ein vorbeifahrendes Auto sein Gesicht kurz aufleuchten ließ. Hin und wieder begegnete sie seinem Blick im Spiegel über ihm. Sein Blick blieb neutral. Kein Lächeln. Kein Interesse. Gut so, dachte sie.
Sie erreichten ein allein stehendes Haus mit mehreren Etagen, dessen Parkplatz nahezu leer war. Zwei, drei Fahrzeuge. Könnten auch vom Personal sein. Im Eingangsbereich brannte Licht. Kein Ibis. Ein nettes kleines Vorstadthotel, das wahrscheinlich nicht gerade zu den ersten Adressen für Touristen gehörte. Da kam der Trupp Bahnreisender wohl Recht. Siras Zimmer lag unterm Dach. Fast schon großzügig für eine Person. Sie ließ ihre Tasche neben dem Schrank fallen. Hatte nicht vor, sie auszuräumen. Blieb ja nur die eine Nacht.
Sie schaute ins Bad. Duschen! Duschen würde sie. Augenblicklich ließ sie ihre Jacke fallen. Zog sich aus. Drehte das warme Wasser auf und ließ sich die Wärme über die Haut und die Glieder fließen. Was für ein Glück! Wäre sie nicht so hungrig, würde sie sofort ins Bett fallen. Aber sie wusste schon, dass der Hunger sie nur wach halten würde. Also zog sie sich schweren Herzens wieder an und ging hinunter.
Wenig später legte sie sich in das schmale Bett, das in einer Ecke des Zimmers hinter der Tür verbaut war. Die Matratze war angenehm hart. Die Bettwäsche roch frisch, fast heimelig. In der Dunkelheit konnte sich die Trostlosigkeit der pragmatischen Einrichtung nicht durchsetzen. So schloss Sira die Augen und sehnte sich in den Schlaf. Irgendwo tickte eine Uhr. Leise, aber beständig.
Tick
Tick
Tick
Ganz leise.
Beharrlich.
Als tropfe irgendwo Wasser.
Sehr beharrlich.
Sira fühlte Unwillen in sich aufsteigen.
Sie stand auf. Suchte die Richtung des Geräusches.
Keine Uhr.
Woher kam es dann?
Sie legte das Ohr an die Wand.
Tick
Tick
Tick
Okay.
Sie warf das Kissen ans Fußende und drehte die Decke herum, kuschelte sich darunter und schloss die Augen. In ihrem Kopf ging das Ticken weiter. Begann den Takt vorzugeben. Für die Gedanken, die zu kreisen begannen. Doch sie hatte vor langer Zeit gelernt, den Strudel sinnlosen Denkens in die Dunkelheit zu führen als zöge sie einen inneren Vorhang zu und sich so selbst in den Schlaf zu begleiten.
Am Morgen weckte sie das Klingeln eines Weckers. Es kam von nebenan. Sonne überblendete das Zimmer. Sira stand auf und ging ans Fenster. Wow…was für ein Ausblick! Ihr Blick fiel auf eine kleine Ortschaft im Tal, umgeben von Bergen auf denen grüne Wälder einluden, sich darin zu verlieren.
In diesem Moment wäre Sira am liebsten geblieben. Schon wankte ihre Entschlossenheit. Es klopfte an der Tür. „Guten Morgen! Ihr Bus fährt Sie in 30 Minuten zum Bahnhof zurück“ rief eine Stimme dumpf durch die Tür.
Sira stieß sich vom Fenster ab. Sie wollte so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und ihr altes Leben bringen. Sie konnte nicht hier bleiben. Sie wollte endlich ans Meer, das sie in 39 Jahren noch nicht gesehen hatte. Sie wollte wissen, ob es so viel Freiheit gab wie alle schwärmten. Sie wollte Freiheit atmen können.
Unglaublich atmosphärisch. Vielen Dank! 😊🙏
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Dass Sie das Meer noch nicht gesehen hat, erinnert mich an meine Geschichte:
https://wortverdr3her.wordpress.com/2020/08/28/emma-2/
Die ich vor kurzem geschrieben habe.
Ich freue mich auf die Fortsetzung.
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Schau mal:
https://kainschreiber.wordpress.com/2020/08/09/emma-und-das-meer/
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vielen lieben dank!schade, dass es dein „like“ trotzdem nicht erringen konnte …
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Irgendwo in der Stille eine Uhr ticken zu hören, die man nicht selbst dazu aufgezogen hat, konnte ich noch nie leiden, die Irritation kann ich gut verstehen. Auch die Bettwäschenbeschreibung spricht mich sehr an – mir gefällt. dass du mit allen Sinnen schreibst.
Ausserdem ist es völlig anders weitergegangen als ich annahm, und das finde ich mindestens ebenso toll.
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nun:in jeder Geschichte gibt es ja so…zwischenstücke, ruheperioden. dauerhaft spannend hält ja keine/r aus.
Danke für deine Worte!
sie spornen mich an.
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