abcEtüde 37.38.20: Der Schein, so trügerisch

Sie hatte die Hände tief in ihrer Tasche vergraben. Wühlte darin herum als würde sie all ihre Habe dort drin transportieren. Das ging schon eine ganze Weile so.

Das Licht der Nachmittagssonne spiegelte sich in den Fenstern des Cafés, in dem ich saß, um zu schreiben. Als ich aufblickte, entdeckte ich vor einigen Minuten die alte Dame mit dem dünnen Haar, das im Wind gezauselt wurde, auf einer Bank vor dem Café und wurde abgelenkt.

Ohne es zu wollen, begann mein Gehirn tausend Ideen abzuspulen, warum sie dort so allein saß. War sie einsam oder wartete jemand zu Hause auf sie, vor dem sie auf die Bank geflüchtet war, um einmal für ein paar Minuten Ruhe zu haben vor der ständigen Nörgelei ihres bettlägrigen Mannes, mit dem sie seit 43 Jahren verheiratet war. Ein Schlaganfall hatte ihn mitten aus ihrer beiden Leben gerissen und nun rieb sie sich auf in seiner Pflege mit der Trauer im Herzen, um das, was noch ihre Zukunft hätte sein können. Sie hatten von Reisen geträumt. Von fremden Ländern. Den Nordlichtern. Und nun war ihre weiteste Reise, jene bis zu dieser Bank.

Sie wühlte immer noch in ihrer Tasche. Lächelte dabei engelhaft in sich hinein und begann langsam die Dinge aus ihrer Tasche auf der Bank auszubreiten: ein Brillenetui, einen in sich selbst verpackten Einkaufsbeutel, ein Schlüsselbund, Taschentücher, eine Bürste, eine Brotbüchse in orange…ich stutzte…und dann plötzlich riss sie triumphierend den Arm hoch!

Sie hatte gefunden, was sie suchte: eine Packung Zigaretten. Gauloises blau. Noch ein kurzes Nachgraben: ein Feuerzeug kam zutage. Dann nahm sie eine Zigarette, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug und ihr Lächeln wurde noch zufriedener. Dann raffte sie ihr Zeug von der Bank, warf es achtlos zurück in die Tasche, stand entschlossen auf und ging mit energischen Schritten davon.

(300!)

Veröffentlicht von Kain Schreiber

Gedanken. Geschichten. Bilder.

6 Kommentare zu „abcEtüde 37.38.20: Der Schein, so trügerisch

  1. Das ist prima, da war ich sofort dabei. Und ja, das Finden und dann alles andere sofort wieder achtlos zurückzuwerfen, das gilt ja auch für alles andere, nicht nur für Kippen, auch für Taschentücher, Lippenstifte …
    Gefällt mir sehr! 😁🍷👍

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  2. Es ist immer spannend, wenn man Menschen beobachtet und die eigenen Geschichten drumherum verfasst. Wenn man dann noch eine „Lösung“ präsentieren kann, ist es natürlich geradezu perfekt. Schön beschrieben, finde ich.

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